Lesen und Schreiben kann man lernen - es ist nie zu spät.

Betroffene glauben häufig, mit ihrem Problem allein zu sein. Aber das stimmt nicht: Es gibt viele Menschen, die Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben haben.

Fragen & Antworten
  • Christian Dezelski berichtet von seinen Lernerfolgen beim Kurs "Digitale Grundbildung"
  • Karl Lehrer, 49 Jahre, konnte viele Jahre nicht richtig lesen und schreiben.
  • Alan, 21 Jahre, will unbedingt besser Lesen und Schreiben lernen.
  • Peter, 49 Jahre, besucht seit 3 Jahren einen Alphakurs.

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Leicht lesbare Lektüre

Cover Buch

Mein Onkel Franz

Niveau A1, Ernst Klett Verlag

Inhalt: Ein Fleischermeister, der als Pferdehändler nicht nur zu Geld kommt, sondern dadurch sogar zum Millionär wird und trotzdem im Grunde seines Herzens Fleischermeister bleibt - das ist Onkel Franz. Sein Neffe Erich (Kästner) schildert seine Erinnerungen an eine Zeit, in der es so viele arme und so wenig reiche Leute gab.

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Petra: Jedem einen Brief schreiben

Petra, 50, lebt in Püttlingen

Lesen habe ich im Frauenhaus gelernt. Dort war ich, nachdem mein Mann alles in Brand gesteckt
hat. Wir haben alles verloren. Ich muss 27 oder 28 gewesen sein. Am Anfang war es schwierig
überhaupt zuzugeben, dass ich nicht lesen und nicht schreiben kann. Ich hab mich geschämt:
Was denken die jetzt von dir? „Kinder hat sie, aber in der Schule war sie nicht ...“. Abends,
wenn die Kinder im Bett waren, hatten wir viel Zeit. Zusammen haben die anderen Frauen und ich uns
einen Wunsch erfüllt und lesen gelernt. Erst die kleinen Sachen, und dann die großen. Wir haben
Ratespiele gemacht, mit Äpfeln und Birnen und den Anfangsbuchstaben. Wie für kleine Kinder.

Schreiben kann ich ehrlich gesagt nicht gut. Ich bin schon zum dritten Mal deswegen in der
Volkshochschule. Ich weiß nicht, was damals in der Schule abgegangen ist, wir sind kaum da
gewesen. Ich habe dort nie schreiben und lesen gelernt. Wir wurden in der Schule gehänselt, weil
wir das Pausenbrot in Zeitungspapier hatten und weil mein Papa Alkoholiker war. Also waren
wir meistens nicht da sondern spazieren. Ich weiß nicht, ob Briefe an meine Eltern kamen. Wir
sind nie gefragt worden, was wir machen. Polizei, Jugendamt, niemand hat sich drum gekümmert,
wir wurden auch nie in die Schule geholt.

Mein Vater war Bergmann. Er war Trinker, aber er war fleißig. Meine Mutter hat Alkohol
gehasst. Da gab es viel Streit. Mein Vater hat nie die Hand gegen meine Mutter gerichtet, aber
meine Mutter gegen meinen Vater. Das war schrecklich. Bei einem Streit war meine Mutter
schwanger und hat das Kind verloren. Vier Monate war sie verschwunden und wir mussten ins
Schifferkinderheim. Erst als sie erfahren hat, dass wir adoptiert werden sollen, ist sie wieder
aufgetaucht. Dann hat sie gekämpft. Wir wollten natürlich zurück zu ihr. Obwohl es nicht schön
war. Aber im Heim war es auch nicht schön, da waren wir Geschwister getrennt.

Von meiner Familie bin ich früh weg, weil ich kein schönes Leben dort hatte. Ich hab keinen
Kontakt mehr zu den allen. Wir sind neun Schwestern und fünf Brüder, meine Mutter war immer
im Stress. Ich war das Aschenputtel. Ich musste morgens auf den Markt gehen, Tische für Obst
und Gemüse aufbauen, für den Nachbarn kehren, auf die Kinder aufpassen. Das Geld wurde in
der Familie kassiert. Ich hab nichts davon gesehen.

Ich wurde nicht von Anfang an so schlecht behandelt. Das war erst durch den großen Unfall
meines Bruders. Weil ich mit dem Unfall zu tun gehabt habe. Der ist schwer behindert. Wir sind
damals aus der Schule gekommen, ich war sechs oder sieben, mein Bruder neun. Wir haben uns
vom Berg runter gerollt. Der Nachbarjunge dachte, wir würden uns streiten, weil ich ein bisschen
geschrieen hab. Er hat ein Beil geholt und meinem Bruder auf den Kopf geschlagen. Der ist ganz
schön beschädigt der Kopf. Meine Mutter hat einen Hass auf mich gekriegt. Ich weiß nicht was
sie gefühlt oder gedacht hat. Wir haben da nie drüber gesprochen.

Meine Schwestern waren in der Schule. Unsere Prinzessin, die Margrit, die hat sogar Schülerhilfe
gekriegt. Die ist heute sogar Steuerberaterin, hat ein Haus und eine gute Chefin. Die Firma kann
sie mal übernehmen. Als sie ihr erstes uneheliches Kind nach Hause gebracht hat, ist nicht
gemotzt worden. Die konnte das Kind groß ziehen und einen Beruf lernen. Und hat die
Wohnung bezahlt bekommen. Als ich mit 14 schwanger war, wurde ich in der Nacht raus
geschmissen. Ich wusste nicht wohin, bin die Treppe runter gefallen und hab das Kind verloren.
Bin die ganze Nacht voll Blut im Wald herum gelaufen, vor Schock. Ich hab mich in eine
Waldhütte gelegt und dort geschlafen. Morgens gab es noch stärkere Blutungen, dann bin ich zu
meinem Freund. Als meine Eltern erfahren haben, dass ich das Kind verloren hatte, durfte ich
zurück, aber ich bin nicht mehr zurück. Ich bin mit 14 zu meinem Freund gezogen und nicht
mehr in die Schule gegangen. Ich wollte keinen Unterhalt haben und auch nicht mein Kindergeld,
ich war richtig stur. Ich bin fürs Sozialamt schaffen gegangen, für zwei Mark. Eine Ausbildung
habe ich nie gemacht.

Du hast keine Lehre, kein gar nichts, bist richtig abgestempelt von der Welt. Ich mach jetzt fünf,
sechs Jahre hintereinander nur Ein-Euro-Jobs und komme in keinen Job rein. Alles nur mit
Schulausbildung, mit Schreiben. Jetzt bin ich im Kindergarten, eigentlich für den
hauswirtschaftlichen Bereich, fürs Geschirr. Aber es ist praktisch alles, was ich mache, auch
Toiletten kontrollieren oder den Boden putzen, wenn sich ein Kind übergeben hat, Fenster
putzen, Wäsche bügeln. Ich schlag nichts ab, ist Ausbeuterei. Die Putzfrau kriegt 13,50 Euro für
eine Stunde. Ich bekomme einen Euro! Innerlich koche ich, aber ich will mich nicht beschweren.
Wenn ich alles mache, habe ich vielleicht eine Chance, einzusteigen.

Mein Mann wollte nicht, dass ich lesen und schreiben lerne. Jetzt bin ich geschieden. Ich wohne
mit dem jüngsten Sohn zusammen, er ist zehn. Die beiden anderen sind 23 und 25. Ich konnte
nie bei den Aufgaben helfen. Sie wissen, dass ich nicht lesen und schreiben kann, aber sie wollen
es nicht wahr haben. Sie sagen: Du kannst es! Und ich sage: Ich kann’s net. Wir haben viel Streit
darüber. Wenn ich ihnen so kleine Zettel mit „Ich bin nicht daheim“ oder „Ich hab dich lieb“
hingelegt hab, haben sie nie geglaubt, dass ich das abgeschrieben habe. Und Einkaufszettel habe
ich ihnen nie gemacht. Vorgelesen hab ich ihnen, so Märchenbücher und abends Gute-Nacht-
Geschichten. Aber das waren kleine Bücher mit ziemlich großer Schrift und nur so drei, vier
Sätze. Lesen und verstehen, das ist das Schwierigste. Wenn sie mich gefragt hätten, um was es in
der Geschichte ging und was passiert ist, hätte ich es nicht erklären können.

Am schlimmsten ist es, wenn man alleine ist und keine Hilfe hat. Wenn ich einen Brief
bekomme, werde ich nicht schlau draus. Ich muss jemanden anrufen, lesen kann ich, aber
begreifen, was der von mir will, kann ich nicht. Auf Ämtern heißt es immer „Warum können Sie das
nicht lesen, ist doch nicht viel?“ Manchmal frage ich meinen Exfreund. Wenn der Kleine eine
Schularbeit hat oder lesen üben muss. In seinem Heft steht immer: „Kann nicht lesen. Andreas
muss mehr üben!“

Ich würde gerne die Heinz-Erhardt-Bücher lesen. Und wenn ich schreiben könnte würde ich
jedem einen Brief schreiben, mal meine Meinung sagen. Ich denk immer, hoffentlich überlebe ich
noch und kann einen Abschiedsbrief schreiben, dass die endlich mal begreifen, was ich für sie
gefühlt habe oder wie ich mich gefühlt habe.

Und ich wünsche mir einen richtigen Arbeitsplatz, damit ich nicht vom Amt abhängig bin. Oder
mal verreisen. Wo ich schon ewig nicht mehr war: Schwarzwald, oder wo ich mit den Kindern in
Kur war, Nordsee. Nicht immer nur in den eigenen vier Wänden sein. Aber das Wichtigste wäre, dass man aus der ARGE raus kommt. Wenn ich überlege, wie lange ich Ein-Euro-Jobs mache oder für zwei Mark schaffen gegangen bin. Von 14 Jahren bis 50, nie was Richtiges. Das ist ja kein Berufsleben.

Gefragt, geschnitten und editiert von Lisa-Maria Seydlitz

Information: erstellt am 24.01.13, zuletzt geändert am 24.01.13