Manuela, 44, lebt in Alzey
In der Schule haben wir gelernt, wie man das ‚L’ schreibt. Aber meine L's sind alle umgefallen,
wie voll gesoffen. Das hat meinem Vater nicht gepasst. Mit dem Fleischwolf hat er mir die Finger
dick gehauen während meine Mutter meine Hand festgehalten hat. Zu Hause waren wir neun
Kinder, ich war das schwarze Schaf: Ich kam auf die Welt und war nicht gewollt. Mein Vater war
Alkoholiker, unser Haus war die Hölle. Ich hab immer Schläge bekommen. Da hab ich dann zu
gemacht und nichts mehr gelernt. Ich hatte immer Angst: Angst vor dem Einschlafen, Angst,
etwas Verkehrtes zu machen.
Auch vor den Lehrern in der Grundschule hatte ich Angst, vor allem, wenn ich was vorlesen
musste und mir danach die Note mit den Fingern angezeigt wurde. Ich hab eigentlich immer
Sechser bekommen. Eine Lehrerin war besonders streng und hat mich an den Haaren gezogen,
wenn ich ein Wort nicht lesen konnte, dann musste ich mich eine Stunde auf einen Stuhl stellen.
Die Kinder haben mich ausgelacht.
Meine Zwillingsschwester war in der Schule immer besser als ich, die konnte alles. Aber Chancen
wie sie hatte ich nie. Meine Zwillingsschwester ist jetzt Verkäuferin. Was die macht, hätte ich
gerne auch gemacht. Ich bin nach der siebten Klasse ohne Schulabschluss abgegangen und auf
die Berufsschule für Hauswirtschaft gewechselt, die ich abgeschlossen habe. Danach wollte ich
unbedingt ins Berufsbildungswerk Worms rein, aber meine Eltern haben es verboten. Ich hatte
das Gefühl, dass ich daheim bleiben sollte um den Haushalt zu führen.
Nachdem ich nicht ins Berufsbildungswerk durfte, war ich zuerst in der Nervenklinik in Alzey
und dann in Heidenhain in einer Sprachschule. Aber eigentlich war das eine Schule für Leute, die
gestottert haben und keine Schule für Analphabeten. Ich hab mir gesagt, Du passt da zwar nicht
rein, aber so brauchst du wenigstens nicht mehr zurück nach Hause gehen. Nach einem Jahr hat der
Heimleiter dann doch gesagt, dass ich gehen soll, weil ich das Stottern nicht hatte. Aber ich bin
nicht nach Hause gegangen, hab dort nur den Koffer abgestellt und weg war ich. Bin 14 Tage
draußen gewesen und hab einen kennen gelernt, und bei dem Depp bin ich dann geblieben. Von
dem hab ich jetzt zwei Kinder.
Ich hatte Angst vor meinem Mann, er hat getrunken und geschlagen. Wenn er nach Hause kam,
habe ich gezittert. Manchmal habe ich meine Kinder genommen und mich im Kleiderschrank
versteckt. Habe ihnen Plastik vor den Mund geklebt, weil ich Angst hatte, dass sie weinen und er
uns dann hört. Ich hab mir lange auch Schlaftabletten verschreiben lassen, weil ich nicht mehr
schlafen konnte. Bis der Arzt irgendwann sagte, Frau Thomas, ich kann ihnen Schlaftabletten
verschreiben. Aber lang nicht mehr. Ich hätte auf den Friedhof gehen, ein Loch bauen und mich
reinlegen können ... oder meinen Mann verlassen. Am nächsten Sonntag war er mit ein paar
Kumpels unterwegs, ich hab mir die Kinder genommen und fort war ich. Über fünf Tage in der
Kälte. Bin nie mehr zurück.
Meine Kinder und ich haben dann alleine gewohnt und eine Familienbetreuerin bekommen, zum
ersten Mal in meinem Leben habe ich Vertrauen zu jemandem aufgebaut. Als die Kinder in die
Schule gekommen sind, das war das Schlimmste. Bring denen mal lesen bei, wenn du es selbst
nicht richtig kannst. Mama, kannst du mir helfen? fragen sie und ich sitze da und probier’s und
probier’s. Ich konnte es nicht. Oder: Mama, lies mir mal ein Märchen vor. Meine Tochter, die war
nicht dumm. Mama, du hast falsch gelesen, hat sie immer gesagt. Sie hat mir auch ein bisschen
geholfen, aber das Lachen war schon da. Meine eigenen Kinder haben mich ausgelacht wenn ich
ein Wort falsch gelesen hab, und ich konnte meinen Kindern ja auch nicht böse sein. Ich war ja
selbst dran schuld.
Jetzt können meine Kinder alle lesen und schreiben. Meine Tochter macht eine Ausbildung zur
Telefonistin, mein älterer Sohn wird Beikoch und mein jüngster Sohn arbeitet in der
Gastronomie. Wenn ich heute Formulare ausfüllen muss oder Briefe schreiben, frage ich
meistens meine Tochter, die versteht mich. Mein jüngster Sohn hat schon öfter gesagt, Mach’s
selber, dann lernst du’s auch, deswegen gibt es viel Streit. Er denkt, ich wolle mich der
Herausforderung nicht stellen.
Schwierig war es, wenn ich allein auf dem Arbeitsamt war. Wenn es hieß, ich solle was ausfüllen
und ich gesagt hab, Tut mir leid, ich pack das nicht, sagten die: Tut uns leid, machen Sie’s selber.
Bei McDonald’s habe ich von Anfang an gesagt, dass ich Lese- und Schreibschwierigkeiten habe.
Ich war in der Küche, die Arbeit an der Kasse habe ich gleich abgebrochen, das war zu schwierig.
Ich hab mir immer Arbeit gesucht, wo man nicht lesen können muss, hab viel geputzt. Zurzeit
bekomme ich Hartz 4.
Spaß machen würde mir eine Arbeit mit Kindern oder mit alten Leuten. Beinahe hätte ich einen
Job als Altenpflegerin gehabt, aber sogar da braucht man Lesen und Schreiben. Wenn ich gelogen
hätte und ich hätte Nachtschicht oder Frühschicht gehabt, mit den Tabletten, ... da hab ich die
Wahrheit gesagt.
Irgendwann wollte ich nicht mehr meine Kinder fragen müssen, da gab es immer zu viel Stress.
Ich wollte etwas alleine für mich machen, damit ich sagen konnte, Guck, Manuela, du kannst das
jetzt, du brauchst keine Hilfe von deinen eigenen Kindern mehr. Das Arbeitsamt hat mich auf den Kurs im Wurzelwerk Alzey gebracht. Ich habe zwei Mal den Lesen-Kurs gemacht, der hat mir sehr
geholfen. Ich würde jederzeit wieder so einen Kurs machen.
Bevor ich den Kurs im Wurzelwerk Alzey besucht habe, habe ich zu Hause manchmal schreiben
geübt. Am Computer. Ich habe ein Buch genommen und es abgetippt, das
Rechtschreibprogramm ist natürlich auch eine große Hilfe. Es hat trotzdem lange gedauert, aber
es hat geklappt. Lesen habe ich auch geübt, aber ich habe nie gewusst, wie man die Silben
zusammenzieht. Das habe ich dann im Wurzelwerk gelernt.
Mein Traum ist, ein Buch über Michael Jackson zu lesen. Ich könnte das Buch zwar kaufen, aber
wer hilft mir dann, es zu lesen? Die langen schwierigen Wörter überspringe ich auch heute noch.
Wovon ich noch träume: von einer Insel, auf der keine Menschen sind. Oder von einmal im
Leben Urlaub machen. Mein allergrößter Traum aber ist ein Mensch, der mich so nimmt, wie ich
bin. Dann wäre ich glücklich. Was bedeutet Liebe überhaupt? Ich weiß das nicht.
Es sollte für uns extra eine Schule geben, wo wir hin gehen können. Dass wir die Chance haben,
noch mal von Anfang an Lesen und Schreiben zu lernen, so wie die anderen Menschen. Dass wir
uns nicht schämen brauchen. Ich wünsche mir Verständnis.
Gefragt, geschnitten und editiert von Lisa-Maria Seydlitz