Lena, 30, lebt in Frankfurt
Ich bin Analphabetin. Meine Mutter wollte, dass ich in den Lesen-und-Schreiben-Kurs in der
Volkshochschule gehe, sie wollte, dass ich endlich Lesen und Schreiben lerne. Erst habe ich mich
gesträubt, vor den fremden Leuten hatte ich so ein bisschen Angst. Jetzt bin ich froh, dass ich in
der Volkshochschule bin. Und das schon sieben Jahre! Aber ich habe noch immer Probleme.
Im Kurs schreiben wir am Anfang erstmal was von der Tafel ab und dann bilden wir aus diesem
Wort einen Text und bevor wir gehen, lesen wir den vor. Und der Lehrer muss nachgucken, ob’s
stimmt. Und dann schreiben wir’s noch mal ab, ohne Fehler. Das ist gut. Aber bei Diktaten kann
ich immer noch nicht mitmachen, weil ich halt diese blöden Es nicht hören kann. Darum hasse
ich die. Kopfrechnen geht auch nicht. Lange Texte kann ich auch nicht schreiben, eher so eine
halbe Seite. Ich bin trotzdem zufrieden. Meine Mutter sagt immer, Hauptsache, du bist gesund,
Hauptsache, du kannst alles, andere können gar nichts.
Dass ich Probleme habe, wussten meine Eltern schon früh, weil ich mich mit zwei Jahren nicht
gedreht habe. Es gab eine Sauerstoffstörung bei der Schwangerschaft oder bei der Geburt, genau
weiß man das nicht. Als Kind habe ich wegen meiner Probleme drei Mal die Schule gewechselt.
Aber an viel kann ich mich nicht mehr erinnern, das ist alles schon so lange her. Ich vergesse
immer einiges. Und ich muss immer warten, bis ich das wieder hinkriege.
Zuletzt war ich in der Christopherusschule in Darmstadt, das war eine schöne Zeit. Die
Christopherusschule ist eine besondere Schule für Behinderte und Kinder, die so Probleme
haben wie ich. Ich konnte keine Acht schreiben und keine Sieben. Ich konnte nicht lesen. Ich
weiß noch, dass ich bei Diktaten nicht mitschreiben konnte. Mit dem Rechnen hatte ich auch ein
bisschen Schwierigkeiten. Es gab keine Noten auf der Schule, dafür Gartenbau, Werken,
Heileurythmie und Eurythmie. Nach der zehnten oder zwölften Klasse bin ich dann abgegangen,
ohne Schulabschluss.
Ich hab halt keine Freunde. Nur mit einer von der Christopherusschule war ich mal befreundet,
aber die mag ich nicht mehr. Die ist anders als ich. Die kann alles, ich nicht. Und sie hat gesagt,
sie hasst Behinderte. Sich selbst auch. Sie ist nämlich selbst behindert, kleinwüchsig ist die. Ihre
Mutter möchte, dass wir uns noch sehen, aber ich will das nicht mehr. Sie war meine einzige
Freundin. Aber nicht weil ich schüchtern war, war ich nämlich nicht. Ich hab mir nichts aus
Freunden gemacht. Ich hab ja auch noch meine Eltern.
Es ist gut, zu Hause zu wohnen. Ich muss nur ab und zu das Auto aussaugen oder ich helfe
meiner Mutter. Manchmal gehe ich einkaufen und bringe ihr die Sachen mit, die sie mir vorher
auf einen Zettel geschrieben hat.
Seit neun Jahren arbeite ich in einer Cafeteria, nächstes Jahr sind’s zehn. Meine Mutter wollte
damals, dass ich da arbeite. Die hat mich einfach angemeldet, ich wusste nichts davon. Vorher
habe ich in der WFB gearbeitet, in der Behindertenwerkstatt, die stellen Sachen für die Lufthansa
her, für die Fracht. Aber das hat nicht so Spaß gemacht. In der Cafeteria bediene ich die Leute
mit Kaffee und Stückchen und kalten Getränke. Und an der Kasse arbeite ich auch, das macht
Spaß. Vorher konnte ich nämlich auch nicht mit Geld umgehen. Und jetzt kann ich’s.
Nach dem Arbeiten lese ich ab und zu abends, nicht immer. Ich hab daheim bestimmt 20
Kochbücher. Und über 40 Zeitschriften, auch fürs Backen, ich backe gerne Kuchen, und
Hefeteig mach ich auch. Das kann ich nämlich. Aber es dauert halt immer lange, bis ich die
Rezepte gelesen habe.
Ich habe keine Ziele, nur einen Traum: Ich tät gern Auto fahren, aber das kann ich nicht. Ich darf
keinen Führerschein machen. Tja. Ist halt so. Fahrrad fahren kann ich, Bus fahren kann ich, Auto
fahren brauch ich nicht. Ich hab ja noch Eltern, die fahren mich ja noch.
Man muss rundum zufrieden sein, das bin ich auch. Und wenn ich Lesen und Schreiben könnte,
würde sich nichts ändern.
Gefragt, geschnitten und editiert von Lisa-Maria Seydlitz