Lesen und Schreiben kann man lernen - es ist nie zu spät.

Betroffene glauben häufig, mit ihrem Problem allein zu sein. Aber das stimmt nicht: Es gibt viele Menschen, die Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben haben.

Fragen & Antworten
  • Christian Dezelski berichtet von seinen Lernerfolgen beim Kurs "Digitale Grundbildung"
  • Karl Lehrer, 49 Jahre, konnte viele Jahre nicht richtig lesen und schreiben.
  • Alan, 21 Jahre, will unbedingt besser Lesen und Schreiben lernen.
  • Peter, 49 Jahre, besucht seit 3 Jahren einen Alphakurs.

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Cover Buch

Mein Onkel Franz

Niveau A1, Ernst Klett Verlag

Inhalt: Ein Fleischermeister, der als Pferdehändler nicht nur zu Geld kommt, sondern dadurch sogar zum Millionär wird und trotzdem im Grunde seines Herzens Fleischermeister bleibt - das ist Onkel Franz. Sein Neffe Erich (Kästner) schildert seine Erinnerungen an eine Zeit, in der es so viele arme und so wenig reiche Leute gab.

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Mal eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen

Josef, 53, lebt in Simmern

Die Probleme fangen für Analphabeten bei ganz einfachen Sachen an. Wenn man in ein
Geschäft geht, ein bestimmtes Produkt sucht oder den Einkaufszettel lesen muss. Wenn man in
den Urlaub fahren und das Navigationsgerät im Auto bedienen will. Wenn man in einer Behörde
Formulare ausfüllen muss. Oder auch bei der Steuererklärung, der Versicherung, bei
Bankgeschäften – überall kann’s Schwierigkeiten geben.

Gib dich nicht auf! sagten sie in der Fernseh-Werbung vom Alphatelefon. Das fand ich gut. Und
meine Schwester fragte auch irgendwann, Willst du nicht noch ein bisschen was tun, deine Kinder
gehen in die Schule und wenn die Fragen haben oder Hilfe bei den Hausaufgaben brauchen? – Ja, ich
muss was machen, hab ich gedacht, das kann ja so nicht auf Dauer weitergehen.
Ohne meine Schwester an der Hand hätte ich keinen Kurs gefunden und könnte vielleicht immer
noch nicht lesen und schreiben. Denn wie suchen Sie als Analphabet in der Zeitung nach
Anzeigen für Alphabetisierungkurse? Das geht nicht! Also hat meine Schwester hat in der
Zeitung nachgeguckt und im Freundeskreis nachgefragt. Und jetzt mache ich schon seit acht
Jahren diesen Kurs, und kann lesen, kann schreiben, aber gut ist relativ. Es ist noch nicht das,
was ich mir wünschen würde. Dafür ist die Zeit einfach noch zu kurz.

Ich bin allein erziehend. Hab zwei Kinder, Tobias ist zehn und Christine ist 14. Meine Frau ist
schon ein paar Jahre tot, Krebs. Sie war ein Jahr im Krankenhaus, hat Chemo gekriegt. Am
22.11.2002 ist sie gestorben, da war der Kleine zweieinhalb Jahre alt. Nach einem Jahr bei Oma
und Opa sind die Kinder wieder zu mir gekommen. Geht auch so weit. Nach jedem Tief kommt
auch wieder ein Hoch. Man muss halt das Beste draus machen.

Maßgebend für das Besuchen des Alphabetisierungskurses war auch, dass ich den Kindern mal
eine kleine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen wollte, aber mittlerweile sind beide so gut, dass sie
mir die Gute-Nacht-Geschichten vorlesen könnten. Beide wissen, dass ich Analphabet bin. Das
ist nicht so einfach, denn wenn ich sage, sie sollen ihre Aufgaben machen, dann sagen sie schon
mal Du kannst es ja auch nicht! Das ist die Kehrseite der Medaille. Wenn man offen damit umgeht,
dann versuchen sie natürlich einen auszubremsen.

Ich selbst bin auf dem Land groß geworden. Zuhause waren wir fünf Kinder, und wie das halt so
ist, meine Mutter hatte die Landwirtschaft, mein Vater ist schaffen gegangen, eine meiner
Schwestern ist körperbehindert, da war keine Zeit für alle Kinder, nie hat sich jemand mit mir
hingesetzt und gesagt, Ich helfe dir mal. Das war halt nicht so. Fertig. Wie soll ich meinen Eltern
Vorwürfe machen? Die haben keine Zeit gehabt! Die damalige Zeit war ... vielleicht war ich auch
selbst ... die hätten vielleicht ein bisschen mehr hintendran sein können.

Bis zur achten, neunten Klasse bin ich auf die Dorfschule gegangen. Die schlechten Schüler sind
einfach so mitgenommen worden. Die Klassen waren zu groß, pro Jahrgang waren es 30, 32
Kinder und die erste, zweite und dritte Klassenstufe war in einem Raum mit zwei Lehrern. Später
auf der Regionalschule hat man auch keine Zeit gehabt, da musste jeder selbst kämpfen. Ich bin
drei Mal sitzen geblieben und ohne Abschluss abgegangen. Hab meine Ausbildung zum Maurer
gemacht, die ich leider auch verpatzt habe. Für die Prüfung zum Gesellen gab’s Anforderungen,
die nicht zu packen waren, wenn man nicht lesen und schreiben kann. Ich arbeite aber immer
noch in meinem Beruf.
Im Beruf fangen die Schwierigkeiten an, wenn man mittags Tagesberichte schreiben muss: Wo
man war, was man gemacht hat, Stundenzettel eintragen. Ich nehme an, meine Arbeitsstelle weiß,
dass ich Probleme damit habe. Aber ich muss es auch nicht breit treten auf dem Bau, ich möchte
nicht unbedingt Opfer eines Spießrutenlaufes werden. Es gibt immer den ein oder anderen, der
Witze macht oder frotzelt.
Alle zwei Jahre müssen wir zur Berufsvorsorgeuntersuchung nach Koblenz. Da kriegt man einen
Fragebogen: Welche Arzneimittel man nimmt, ob man Herz- oder Kreislaufbeschwerden hat und
so weiter, das soll man ankreuzen. Ich sag immer, Ich füll den Fragebogen mit dem Arzt aus, ist eine
Vertrauenssache, aber das ist auch nicht immer die feine Art, und vor allem muss man sich auch
stellen, warum, wieso. Das sind so Sachen, die man im Leben meistern muss.

Glücklich ist man ja nicht, wenn man was nicht kann. Man ist schon ein bisschen traurig. Nicht
nur traurig, man ist ohnmächtig. Wie kommt das an? Wie kommt das rüber? Versteht der andere
das? Kann man überhaupt verstehen, dass hier in Deutschland das jemand nicht kann? Mir tut
weh, dass es so wenige Informationen gibt, wie man mit diesem Problem umgehen oder wie man
Leute erreichen kann, die das gleiche Problem haben. Es schämt sich ja auch jeder, das
zuzugeben.

Ein Computer macht Spaß. Es ist schön, im Internet nach bestimmten Themen suchen zu
können, Pflanzenwelt oder Bäume. Ich würde gerne besser lesen und schreiben können, dann
könnte ich das Internet benutzen und chatten. Was nützt mir sonst das ganze Medium? Mit der
ganzen Technik kann ich nichts anfangen. Oder auch mit dem Handy. Wenn man jemandem was
mailen will und es fehlt einem ein Wort, dann ist man irgendwann frustriert und schmeißt das
Handy in die Ecke.
Es gibt ein schönes Sprichwort: Wer schreibt, der bleibt. Ein kleiner Wunsch von mir ist, Briefe
schreiben zu können. Oder mal eine Partnerschaftsannonce beantworten, ich denk immer, Ach,
wenn du gut schreiben könntest, dann könntest du ein paar Sätze zurück schreiben. Aber was soll
ich so da hinschreiben? Ich bin ein Dummkopf, kann leider nicht lesen? Das ist nicht das Gelbe
vom Ei, damit kann man ja wohl schlecht punkten.
Und fängt man eine Beziehung an, ist es das Schwierigste der anderen Person beizubringen, dass
man ein Handicap hat. Da ist eine gewisse Scham, zu sagen, Horchemol, ich mag dich zwar, aber ich
hab das und das Problem. Aber der andere würde ja auch dahinter kommen, wenn man es
verheimlichen würde. Das macht einen auch selbst fertig.

Bisher sind meine Ziele alle weg geschwommen. Die Hauptsache ist, gesund und zufrieden zu
bleiben, alles andere wird sich ergeben. Abwarten, das bringt alles die Zeit. Meine Hoffnung ist,
dass meine Kinder eine schöne Ausbildung und den richtigen Weg finden. Dann ist das Ziel
erreicht.

Gefragt, geschnitten und editiert von Lisa-Maria Seydlitz

Information: erstellt am 24.01.13, zuletzt geändert am 24.01.13