Saheera, 28, lebt in Ludwigshafen
Seit zehn Jahren bin ich in Deutschland, seit fünf Jahren lerne und spreche ich Deutsch. Im Irak
bin ich bis zur vierten Klasse in die Schule gegangen. Als meine Mutter sehr krank wurde und nur
noch im Bett lag, musste ich mich um die ganze Familie kümmern. Wenn ein Ehemann eine
große Tochter hat, ist das dort so. Ich war dann raus aus der Schule, ich hab gekocht, geputzt
und mich um die Kinder gekümmert. Arabisch kann ich noch ein bisschen sprechen, aber nicht
so gut. Lesen kann ich nicht und mit der Grammatik habe ich auch Probleme, ich hab alles
vergessen.
Mein Vater hatte im Irak politische Probleme, deswegen ist unsere Familie geflüchtet. Zuerst
wussten wir nicht, wohin wir genau gehen sollten, Hauptsache nach Europa, Hauptsache in
Frieden leben. Hier schläft man ohne Angst und ohne zu denken: Was passiert morgen? Was
passiert mit meinen Kindern?
Warum habe ich nicht schon früher einen Deutschkurs besucht? frage ich mich jetzt immer. In
Deutschland angekommen habe ich erstmal Kinder bekommen und mich um die gekümmert.
Vor fünf Jahren war ich das erste Mal im Deutschkurs, zusammen mit anderen Leuten, das war
so schön. Ich wollte dann alles um den Kurs herum machen. Man lernt die Sprache, die andere
Kultur, man versteht, was passiert. Wenn man in einem Land lebt will man alles wissen.
Das Sprechen ging besser als das Lesen und Schreiben. Sätze zu bilden und vor allem auch, die
Buchstaben zu schreiben, war am Anfang sehr schwer für mich und dauert immer noch lange.
Und als ich mit Lesen angefangen habe, AUIE, da ging gar nichts raus! Ich kann jetzt lesen, aber
nicht so gut sondern sehr langsam. Und man muss sich so viele Sachen merken! Manchmal wird
das PH wie bei der Marke „Philips“ ausgesprochen, also F, ... das fliegt mir immer wieder weg.
Ich will lesen, aber ... SCH wird zu sch oder CH zu ch, das ist wirklich schwierig.
Ich wollte den Hauptschulabschluss machen und war zwei Wochen in einer privaten Schule, die
ich bezahlen musste. Die haben dann für mich extra eine Vor-Prüfung gemacht, aber ich war
nicht gut. Lesen und Schreiben war 0. Mathematik war ich gut. Sie haben gesagt, Das ist nichts für
Sie, es ist schwer.
Die Kinder bringen immer neue Wörter nach Hause. Mit meiner Tochter übe ich es, sie ist in der
zweiten Klasse. Bei ihren Hausaufgaben lerne ich viele Sachen. Meine andere Tochter kommt
jetzt in die erste Klasse, dann kann ich mit ihr Sachen wiederholen.
Zu Terminen gehe ich jetzt allein. Arbeitsamt, Arzt, Rathaus, Elternabend. Zuerst war ich auch
immer ohne Sprache da, mein Bruder ist mit mir gekommen und hat übersetzt. Nach einem Jahr
bin ich alleine gegangen, mein Bruder hat gearbeitet, mein Mann hat gearbeitet und die Termine
waren morgens oder nachmittags. Am Anfang habe ich mit dem Arzt nur einzelne Worte
gewechselt, nach zwei Jahren habe ich Sätze gebildet und nach drei Jahren hat der Arzt zu mir
gesagt Sie können mich jetzt gut verstehen. Es ist gut, wenn man raus geht. Man lernt viele
Sachen draußen, zu Hause lernt man nichts. Ich hab die Wörter immer falsch gesagt, aber die Leute
hier in Deutschland, wenn man falsch spricht, die lachen nicht oder sagen einem, dass das jetzt
falsch ist. Die sagen: Nein, du bist gut, super! Dann weiterlernen! Man wird stolz auf sich.
Mein Mann kann auch nicht gut lesen und schreiben. Am Anfang hat er einen Sprachkurs
gemacht, das ist schon 14 Jahre her. Er hat hier dann die ganze Zeit als Gabelstaplerfahrer
gearbeitet. Mein Bruder hat hier Realschulabschluss gemacht, deswegen kann er gut lesen und
schreiben. Er hilft mir beim Schreiben, aber trotzdem muss man es alleine können. Er hat mir
zum Beispiel gesagt, dass man bei Briefen "Meine Damen und Herren" schreibt weil das höflich
ist. Aber trotzdem: ich vergesse oft Sachen, die er mir sagt. Ich muss es immer versuchen, immer
weiter, weiter. Hier versuche ich jetzt ein bisschen mit dem Wörterbuch zu arbeiten. Und wenn
mein Bruder mir ein neues Wort oder Sätze sagt, schreibe ich es auf eine Tabelle, die bei mir an
der Küchentür hängt.
Ich versuche, viel zu lesen. Aber manchmal habe ich keine Zeit, die Kinder, der Mann, essen,
putzen. Ich mag aber die Zeitung, da sind viele Nachrichten drin, zum Beispiel die BILD-Zeitung
oder das Wochenblatt, das kommt immer nach Hause und sagt, wann Flohmarkt ist, wann
Neueröffnung, und die Zeitschriften von meiner Nachbarin, am liebsten lese ich etwas über
Schauspielerinnen oder Dieter Bohlen. Das mag ich wirklich. Aber Bücher? Wenn ich die lese,
habe ich Kopfschmerzen, das ist so schwer für mich. Es gibt viele Worte drin, die ich nie gehört
habe. Kinderbücher sind leichter für mich.
Ich habe Ziele. Ich will gerne meinen Führerschein machen. Für die Theorieprüfung habe ich mit
einer CD auf Arabisch gelernt und auch bestanden. Aber durch die praktische Prüfung bin ich
durchgefallen. Ich will, dass die Sprache immer besser wird, das Lesen und Schreiben. Später will
ich eine feste Arbeit hier in Deutschland haben. Weil man ohne Arbeit nichts machen kann. Erst
Führerschein, dann Sprache, dann Arbeit.
Wir leben hier. Man muss gut lesen und schreiben können. Wegen der Kinder! Wegen der
Zukunft!
Gefragt, geschnitten und editiert von Lisa-Maria Seydlitz